Ulrich Görtz
Ulrich Görtz – Sichtbare Welten
Von Dr. Sylvia Metz
Der Bildhauer Ulrich Görtz (*1963) ist vor allem in kleinen Formaten zu Hause. In diesen beschäftigt er sich gerne mit ganz alltäglichen Szenen, mit jenen für alle Menschen „sichtbaren Welten“, die die meisten von uns jedoch, trotz ihrer Sichtbarkeit, nicht bemerken. Seine Arbeiten sind von einer hohen Präzision gekennzeichnet und lassen uns erahnen, warum Görtz zu Studienzeiten der Meisterschüler von Prof. Hans Karl Burgeff an der Fachhochschule für Kunst und Design in Köln war. In der Ausstellung begegnen uns vorwiegend Menschen und Tiere, manche von ihnen wurden in einen architektonischen Bezugsrahmen eingebettet. Wie wir wissen, haben beide Spezies viel mit der jeweils anderen gemein. So verhält es sich auch in der Arbeit Zwei Affen (2009). Die beiden wurden aus Kalkstein herausgearbeitet, sitzen hintereinander und berühren sich liebevoll. Sie zeigen ganz selbstverständlich eine natürliche Nähe, die uns Menschen im Umgang miteinander oft fremd geworden ist.
Aber warum eigentlich sieht Ulrich Görtz – und sehen heute auch wir – Tiere an, warum beschäftigen wir uns überhaupt mit ihnen? Eine mögliche Antwort könnte sein: weil sie aus unserem natürlichen Lebensumfeld verschwunden sind. Diese Entwicklung begann im 19. Jahrhundert, parallel zu dem ersten Aufkommen der Zoologischen Gärten (Londoner Zoo 1828 gegründet, Berliner Zoo 1844). Wir entfremden uns zunehmend von den Tieren; indem wir auf sie schauen, wird uns bewusst, was uns abhandengekommen ist.
Tiere sind Vermittler zwischen dem Menschen und seinem Ursprung, sie stehen zwischen Natur und Kultur. Zahlreiche Künstler haben sich unter anderem genau deshalb mit Tierstudien beschäftigt. Wenn Ulrich Görtz also das Verhalten zweier Affen in Kalkstein meißelt, dann ist das nicht nur die Beobachtung einer Geste, sondern zugleich die Erinnerung daran, wie es einmal war, wie wir einmal miteinander waren. Wie bei den zwei Affen geht es auch bei der Skulptur Der Wolf (2011) um die Aktivierung dessen in uns, was ursprünglich ist. Doch handelt es sich bei dem Wolf, im Gegensatz zu den Affen, um ein Raubtier. Er lebt meist in einem Familienverband mit anderen zusammen. Viele jagende Völker verehrten den Wolf wegen dessen Ausdauer und Geschick – noch heute erinnern Vornamen wie Wolf oder Wolfgang an die Wertschätzung dieses Tieres. Der Wolf folgt seinen Instinkten und hat sich damit bereits seit mehr als einhunderttausend Jahren auf unserer Erde behauptet – bis ins 20. Jahrhundert, denn da hat der Mensch ihn fast ausgerottet. In der Literatur tritt der Wolf mitunter als Metapher für die animalische, die triebgesteuerte Seite des Menschen auf, so z.B. im Steppenwolf von Hermann Hesse. Sind wir denn heutzutage mit dieser Seite der menschlichen Natur noch im Einklang?
Um das Thema der Entfremdung des Menschen von der Natur geht es auch in Holzarbeiten wie Gereonswall (2010). Darin entdecken wir einen menschenleeren Straßenzug, der in der Kölner Altstadt zu finden ist. Das einzig Lebendige in diesem Relief scheinen die Autos zu sein. Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie bemerken, dass eines der Autos gerade dabei ist, links abzubiegen – gehen wir einmal davon aus, dass es von einem Menschen gesteuert wird, so wäre dann, ganz versteckt, doch noch ein wenig Natur inmitten all der städtischen Leere vorhanden. Ein anderes Holzrelief, das mit Der Durst betitelt ist, zeigt eine Szene in einer Kneipe. Trinkerszenen sind fester Bestandteil eines klassischen kunsthistorischen Repertoires, denkt man beispielsweise an die entsprechenden Genrebilder von Édouard Manet oder Edgar Degas. Doch wie auch schon im Impressionismus muss man in dem hier zu sehenden Werk fragen: auf was (oder wen?) haben die hier dargestellten Menschen eigentlich Durst? Ist es nicht vielmehr der Wunsch nach einem sozialen Gegenüber, als der Wunsch nach Absinth (im 19. Jahrhundert) bzw. Bier, oder Wein?
In den Werken des Bildhauers Görtz wechselt die Form zwischen Verdichtung und Auflösung, Offenheit und Geschlossenheit. Im Umgang mit der Tradition der Holzskulptur, die bis ins Mittelalter zurückreicht, zeigt er sich stellenweise geradezu verwegen. Häufig wird das Prozessuale sichtbar und das Holz bleibt dadurch lebendig. In Werken wie Die Grotte (2010), Elmar Adler (2008) oder Frau G (2012) setzt sich Görtz mit reduzierten, nahezu archetypischen Formen des Menschseins auseinander. Es sind Urtypen, die wir hier erkennen, mit denen wir uns leicht identifizieren können. Zu sehen sind menschliche Zustände, die zunächst einfach verstehbar erscheinen. Doch bei näherem Hinsehen offenbaren die Figuren ihren Witz oder auch ihre symbolträchtige Referenz auf kulturhistorisch relevante Motive.
So hat Görtz im Werk Zwei Bildhauer (2004) einen Baum aus dem Holz herausgearbeitet, vor dem zwei männliche Figuren stehen. Zwischen ihnen befindet sich ein Materialblock, den die beiden gleich bearbeiten werden. Görtz zeigt hier den Moment, der dem Kunstwerk selbst bereits zugrunde liegt: der Augenblick vor der Bearbeitung des Materials, bevor die von Görtz geschaffenen Figuren selbst zu Schöpfern werden. In fast allen Religionen und Kulturen ist der Baum als Sinnbild eines heiligen Ortes bekannt. Im Alten Testament isst Eva die verbotene Frucht vom Baum des Lebens, der in der Mitte des Paradieses steht und die Folgen sind, wie wir alle wissen, fatal. Im alten Griechenland waren Wälder und Haine die bevorzugten Orte der Götter und es sind zahlreiche antike Kultstätten überliefert, die sich in Wäldern befanden. Dies ist eine Vorstellung die auch in unsere moderne Märchen- und Sagenwelt Einzug hielt: Noch heute begegnen wir im Wald solch fabelhaften Wesen wie Schneewittchen, das von Zwergen aufgenommen wird, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, Rumpelstilzchen, und auch J. R. R.Tolkien lässt seine Herr der Ringe-Saga zu weiten Teilen im Wald spielen, in dem Frodo Beutlin und seine Freunde Elben, Zauberern und Orks begegnen. Im Wald, der ja nichts anderes als eine Vielzahl von Bäumen ist, treffen Gut und Böse, Werden und Vergehen, Alltag und Mythologie aufeinander. Der berühmte Psychoanalytiker Carl Gustav Jung versteht den Baum als Symbol der Vereinigung des männlichen und des weiblichen Prinzips. Einer Legende des Indianerstammes der Algonkin nach, soll der Schöpfergott einen Pfeil in eine Esche geschossen haben, woraufhin der erste Mensch entstanden sein soll. Für Jung wird der Baum daher zum Sinnbild für die Fortpflanzung. Doch steht der Baum nicht nur für positive, lebensspendende Assoziationen. Der Baum und insbesondere das aus ihm gewonnene Holz, kann auch als Symbol einer todbringenden Funktion interpretiert werden, denken wir z.B. an das Holzkreuz, an das Jesus geschlagen wurde. Holz ist zudem ein vergängliches Material. Nur wenige Arbeiten in Holz haben die Jahrhunderte überdauert, den meisten ist – im Vergleich zu anderen bildhauerischen Materialien wie Marmor – ein vergleichsweise kurzes Dasein beschieden.
All diesen zum Teil ambivalenten und Jahrtausende alten kulturellen Konnotationen stellt sich Ulrich Görtz, wenn er im Jahr 2016 mit Holz arbeitet. Auch kennt er selbstverständlich die künstlerischen Traditionen, die das Material mit sich bringt. Bedeutende Künstler wie Ernst Barlach, Constantin Brancusi oder Georg Baselitz setzten im 20. Jahrhundert wichtige Akzente im Bereich der Holzskulptur. Sie haben, wie auch andere Künstlerinnen und Künstler, dazu beigetragen, die Holzskulptur aus dem sakralen Kontext herauszulösen, mit dem sie lange Zeit fast ausschließlich verbunden war, denken wir beispielsweise an die Holztüren von Kirchen, oder an das bereits erwähnte Kreuz Christi.
Vor diesem Hintergrund betrachtet, werden die Zwei Bildhauer zu Menschen, die sich mit dem Werden und Sein, mit der Schöpfung, der Vergänglichkeit, dem Leben und dem Tod auseinandersetzen. Sie selbst sind dem Material entsprungen, das sie bearbeiten wollen und führen damit den Kreislauf des Lebens fort. Sie stehen auch für den Künstler als Schöpfer, der die Welt neu erschafft und sichtbar macht – sichtbar für Menschen wie uns, die oft an alltäglichen Situationen vorbeihasten in der geschäftigen Eile des Alltags, ohne dabei genau hinzusehen. Ein weiterer Bereich, mit dem sich Görtz beschäftigt, ist der Ursprung der Holzskulptur selbst. Für zahlreiche Kulturen unserer Welt sind sogenannte Pfahlskulpturen nachgewiesen. Bei diesen Pfahlskulpturen handelt es sich um vorgeschichtliche ästhetische Impulse, bei denen aus einem Stück Baum oder einer Astgabel eine Figur herausgeschnitzt worden ist. Es sind häufig längliche Stöcke, die am Ende einen Kopf tragen oder deren Körper leicht modelliert ist. Ein bisschen sind sie mit den Skulpturen Auf und Ab (2016) und Frau (2016) vergleichbar. Die ältesten bekannten Pfahlskulpturen stammen aus der vorrömischen Eisenzeit (also ca. 750-60 v.Chr.). Sie stellten Naturgottheiten dar und konnten bis heute nur deshalb überdauern, da sie im Moor gelegen haben. Diese schlicht gestalteten Pfahlskulpturen haben Ähnlichkeit mit afrikanischen Götter-Skulpturen und auch mit keltischen Darstellung, die ebenso durch eine vergleichsweise simple Gestaltung und der Herausarbeitung einzelner Körperteile und des Kopfes gekennzeichnet sind. Görtz wird diesen „Ursprüngen der Holzskulpturen“ sicher in seinem Studium begegnet sein. Wenn er nun eine Frau kopfüber in einem seiner „Pfähle“ verschwinden lässt, oder Treppengeländer- oder, Tischbeinbeinstücke zwischen den Figuren einbaut, so nimmt Görtz sich selbst und seine Arbeit auch ein wenig aufs Korn. Diese Brise Humor, die mit Ironie gepaart ist, bringt eine Leichtigkeit zum Ausdruck, die sein Werk kontinuierlich durchzieht und in unterschiedlichsten Arbeiten, gleich welchen Materials, zu finden ist. Gut zu sehen ist dies z.B. in der Arbeit Kühlschrankwaschmaschineherd (2013). Wenn Görtz diese Errungenschaften der industriellen Revolution zur Plastik macht, dann zeigt er damit, welchen Stellenwert sie in unserem Leben heutzutage einnehmen. Nicht mehr Zeichen der religiösen Zugehörigkeit stehen in unseren Wohnungen und Häusern und hängen an unseren Wänden, sondern Zeichen des Wohlstandes, unsere Ersatzreligion. Mein Haus, mein Auto, mein Pferd. Das, worauf Görtz hier anspielt, lässt sich mit einem kurzen Exkurs in die Literatur gut verdeutlichen. In einem Buch des Frankfurter Schriftstellers Jakob Arjouni, es heißt Idioten. Fünf Märchen, erzählt der Autor fünf Geschichten über Menschen, die von einer Fee einen Wunsch erfüllt bekommen. Doch es gibt einen Haken: es werden nämlich nur Wünsch erfüllt, die nicht in die Bereiche „Unsterblichkeit, Gesundheit, Geld und Liebe“ fallen. In dem Moment, in dem die Fee den Menschen erscheint, vergessen aber einige dieser Menschen ihren ursprünglichen Wunsch und fragen die Fee stattdessen: „Was ist das Teuerste, das ich mir wünschen kann?“. Und das ist eine Geschirrspülmaschine. Wenn die Menschen dann wieder zu sich kommen und sich nicht mehr an die Begegnung mit der Fee erinnern können, fragen sie sich, wann sie sich denn eigentlich die neue Spülmaschine gekauft haben, die in der Küche steht. An ihrem Seelenheil hat sich jedoch nichts geändert, da sie den unberechenbaren Folgen eines Erkenntnisgewinns die gewohnte Beschränktheit vorziehen. „Menschen also wie Sie und ich“, steht im Klappentext des Buches. Nach der Wunscherfüllung bleiben die Menschen also genauso glücklich oder unglücklich wie zuvor. Ist das nicht schön und irgendwie auch unglaublich beruhigend?
Ulrich Görtz hält uns einen Spiegel vor, ohne dabei jedoch einen mahnenden Zeigefinger zu erheben. Stattdessen gelingt es ihm, durch die kluge Inszenierung kulturhistorisch bedeutsamer Bilder, durch die Sichtbarmachung einzelner Teilaspekte der Welt, uns zu faszinieren und zum Schmunzeln und Nachdenken zu bringen.